gleichgewicht

Kalte Luft einatmen.
Den Sand unter den Schuhen quietschen hören.
Das Rauschen der Wellen und den Geruch der See erleben.
Die Taschenlampe ausschalten, weil Mond und Sterne noch hell genug sind.
Am Strand entlanggehen, auf der Suche nach dem Motiv, … nach dem Motiv, welches die nächsten Stunden meine volle Aufmerksamkeit bekommt.

Wenn man so früh am Morgen schon am Strand ist, ist man noch am Wachwerden. 

Das heißt auch, dass man noch keine Gedanken gedacht hat, dass man noch nichts erlebt hat, was die Stimmung beeinflusst. 

Und dann entdeckt man das Motiv – das Motiv, mit dem man in den Tag startet.

Ich nehme mir dafür viel Zeit. 
Das bedeutet natürlich: aufstehen vor fünf Uhr morgens, am Strand angekommen, ist es dann noch dunkel. 
Der Vorteil: Man kann eine halbe Stunde oder länger am dunklen Strand mit Taschenlampe und Kompass planen, wo man wie stehen sollte, damit die Sonne an der gewünschten Stelle im Bild ist, welcher Wellenbrecher sich am besten eignet, am meisten Charakter hat…

Angekommen, der Himmel beginnt langsam ein wenig heller zu werden, die Sonne nähert sich also dem Horizont. Ich baue mein Stativ auf, montiere die Kamera, fokussiere … und dann … dann heißt es warten – warten, bis die Sonne die Wolken von unten bescheint und in pastellige Farben taucht. Mit jedem Foto, das ich aufnehme, merke ich, wie das Holz des Wellenbrechers vom Licht umspielt wird und neue Details zum Vorschein kommen. 

Ich korrigiere die Position meiner Kamera minimal für perfekte Symmetrie und fotografiere weiter.

Dann kommt die Sonne über den Horizont: ein Moment, der nur Sekunden dauert – ein Moment, in dem die Kälte der Nacht urplötzlich zur Wärme des Tages wird – ein Moment, in dem aus beginnender Wachheit Leben wird. 
… Der Moment, aus dem Müdigkeit zu Energie wird – der Moment, in dem aus vor Kälte hochgezogenen Schultern und krummer Körperhaltung ein entspannter aufrechter Stand wird, um so viel Sonne wie möglich genießen zu können – mit dem ganzen Körper.

In diesem Moment ist alles gut. Nichts stört. Alles, was man sieht und wahrnimmt, ist in Ordnung!

Da könnte man fast anfangen, über Farben zu philosophieren. 
Das schwere, melancholische Blau wird langsam verdrängt von dem frischen, leichten Gelb der Sonne!

Worauf möchte ich mit diesem Beitrag eigentlich hinaus?

Fotografieren ist für mich Leben erleben.
Die Fotografie hilft mir, meine Umwelt neu zu sehen.

Vor ein paar Tagen ging ich eine Straße entlang, die ich mehrmals die Woche entlanggehe und entdeckte eine komplett neue Perspektive! 

Fotografieren hilft mir, wenn es gerade irgendwie etwas viel ist im Kopf, Ordnung zu schaffen, zu meditieren, Gedanken zu lenken. 

Zu meiner ersten Fotoreise entschloss ich mich, als mir alles zu viel war. 

Ich fuhr ans Meer, im Frühling.

Dieses Bild entstand. 
Das vielleicht bedeutendste Bild, das ich aufgenommen habe, für mich – für niemanden sonst!

Ich verbrachte den ganzen Nachmittag dieses Tages am Strand. Alles an diesem Nachmittag war irgendwie ungemütlich! Nieselregen, Sturm, Steinstrand, Wellen, Wolken. 

Mir gelangen ein paar Fotos, die herrlich dramatisch waren, allerdings weit weg von innerem Gleichgewicht und Ruhe. 
Erschöpft vom Anlaufen gegen den Sturm und Durchnässtwerden, vom Sturm getragene Regentropfen können echt weh tun im Gesicht, setzte ich mich nach einigen Stunden ins Auto, um mich aufzuwärmen. 
Ich kam gerade zur Ruhe, als mein Handy klingelte. Es war der Anruf, der mein Leben von Grund auf ändern sollte, der Anruf, der mich hier nach Wien brachte!

Überglücklich und voller Energie legte ich das Handy weg und bemerkte, dass der Himmel irgendwie anders aussah und der Sturm zu einem leichten Wind geworden war. 
Aussteigen, Rucksack schultern, Düne erklimmen … 
Naturspektakel erleben!

Ich lief, so schnell es der Strand unter meinen Füßen zuließ, zum Wellenbrecher, baute Stativ und Kamera auf, schraubte meinen Filter auf das Objektiv, baute mein Bild auf und löste aus! Während der Belichtung brach die Sonne kurz durch die Wolkendecke und verlieh der dramatischen Szene das gewisse Etwas! So wurde aus einem düster-dramatisch glühenden Himmel ein einfach intensiv und beeindruckend leuchtender! 

Der symmetrische Bildaufbau strahlt Ruhe aus, die Szene an sich lässt Intensität erahnen.
Das Bild hängt in meiner Wohnung, auf Leinen gedruckt, über einen Meter groß. 
Wann immer ich es betrachte, erinnert es mich an diesen Moment: diese Mischung aus Gefühlen, den Geruch des Meeres, das Gefühl der nassen Hose auf meinen Beinen.
Ich sehe das Licht des Leuchtturms kreisen und erinnere mich an die Heimfahrt danach. 
Es war der vorletzte Tag meiner Reise und ich wusste an diesem Abend, dass dies das Foto war, für das ich nach Rügen gefahren war! … Diese innere Ruhe, die man verspürt, wenn man weiß: “Dafür bin ich hier!”

Mein Tag heute war irgendwie unbefriedigend: Wetter, Stimmung … alles … 

Ich sitze hier, schreibe diesen Beitrag und grinse! 
Ich will wieder an diesen Strand und den Sonnenuntergang beobachten! 
In Gedanken bin ich gerade dort! 

An dieser Stelle kannst du aufhören zu lesen, lies wann anders den Rest 🙂 … oder lies weiter!

Ich sitze in meiner Wohnung in der Großstadt.
Draußen ist es kalt und grau. 
Beim Betrachten des Fotos bin ich am Meer, in dieser Stimmung, die ich damals empfand. 
Zwei Jahre ist dieses Foto jetzt her! Und ich weiß noch, was ich anhatte, was ich auf der Heimfahrt danach dachte, was ich an dem Abend gegessen habe, wie weh mir alles tat, weil Kälte und am Strand zu vorwärtszukommen, anstrengend waren.

Fotografieren ist für mich mehr als das Bedienen einer Kamera und das Gestalten eines Bildes.
Es ist meine persönliche Art, das Leben zu erleben. 

Das muss keiner verstehen.
Das bedeutet nicht, dass meine Bilder besonders gut sein müssen. 
Es bedeutet nur, dass sie mir etwas geben, was nur ich ihnen abgewinnen kann! 
Und es ist ein gutes Gefühl, etwas zu haben, was mir niemand nehmen kann.

Auch eines dieser Bilder …
Am Tag meiner Anreise … hinter mir liegen sieben Stunden Autofahrt, an deren Anfang ich bereits im Schneesturm bedingten Stau stand, an deren Ende ich mich auf Rügen wiederfinde, wo der Himmel fast durchgängig blau ist. 
Ich gehe am Strand spazieren.
Anschließend checke ich in meinem Hotel ein und beschließe, den See ganz in der Nähe zu besuchen. 
Ein paar Wolken ziehen auf und die Sonne geht unter! Wieder so ein Moment! Die Sonne spitzt noch einmal zwischen Wolken und Horizont hindurch, bevor sie sich in die Nacht verabschiedet.

Nach einem langen Tag im Auto, einem Tag, der nicht sehr vielversprechend begonnen hatte …

Noch so ein Bild …
Den ganzen Tag bei mittelprächtigem Wetter wandern, den Nachmittag mit kleineren Wegen um die Berghütte herum verbracht… und dann geht die Sonne unter, der Himmel öffnet sich noch einmal. 

… Sechs Minuten Belichtung, in denen man nur die Berge ansieht und sich auf das Ergebnis freut! Sonst ist nichts im Kopf: nur der Blick in die Richtung, in die die Kamera ausgerichtet ist und das Entstehen des Bildes vor dem geistigen Auge, was wenige Momente später auf der Speicherkarte (und im besten Fall an der Wand) festgehalten sein wird.

Es mag esoterisch klingen, vielleicht glaubst du es mir auch nicht …, aber ich erinnere mich beim Betrachten eines meiner Bilder fast immer an den Moment, in dem es entstand. 
Jedes meiner Bilder ist für mich wie eine kurze Reise … zurück zu dem Moment der Entstehung.
Jedes Landschaftsfoto erinnert mich an den Geruch, die Temperatur, die Stimmung, in der ich beim Fotografieren war. 
Jedes Porträt erinnert mich an die Person, die abgebildet ist und an die Gespräche und Gefühle, die ich beim Shooting hatte. 

Jedes Foto erinnert mich an einen erlebten Moment!

Manchmal bin ich dankbar, dass ich vor allem für mich fotografiere!

… mit dem Fahrrad durch die “Steppe”, der Gedanke: “Wir haben uns übernommen, über 100km mit dem Rad – als fünfte Tour des Jahres – sind zu viel!”

… die Musik, die ich hörte, als ich mich auf einem Spaziergang im Park für die Dauer des Spaziergangs in einen Typen verliebte, der auch in diesem Park spazierte und mir immer wieder über den Weg lief …

… eine überraschend warme Nacht … auf dem Weg zu einem so aufregenden Date, die Musik, die aus dem Auto kam, die Stimme der Mädels, die mir zuriefen: “Du bist süß!”
… dieses “alles ist möglich”-Gefühl!

… unglaublich verkatert die SMS erhalten: “Spontane Fototour?” – und zugesagt. 

Ich könnte ewig so weitermachen!

Mein Appell an Dich: finde etwas was dich dein Leben nicht nur leben, sondern erleben lässt – was Gefühle in dir hervorruft und was Dir Erinnerungen schenkt.

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